Lebensmittelallergien und -unverträglichkeiten nehmen nicht zu
Jean Molière hat schon 1673 mit seinem Theaterstück „Der eingebildete Kranke“ vor den Folgen allzu leichtgläubiger Ärztebesessenheit gewarnt. Der Hypochonder Argan nimmt darin äußerst unangenehme Behandlungen auf sich, nur weil er denkt, an diversen potenziell tödlichen Krankheiten zu leiden. Er kann sich zwar die ebenso teuren wie nutzlosen Prozeduren leisten, macht aber eigentlich nur die Ärzte reich und sich und seiner Familie das Leben zur Hölle.
Molière im 21. Jahrhundert
So manch ein Partygespräch im 21. Jahrhundert erinnert fatal an Molières Komödie. Kerngesund aussehende Menschen rezitieren die lateinischen Namen komplizierter Stoffwechselstörungen und lamentieren darüber, welche Umwege sie deswegen um das eine oder andere Lebensmittel machen. Allerdings sind sie einen Schritt weiter als Argan – sie brauchen die Ärzte gar nicht mehr, um ihre Krankheiten zu diagnostizieren – Stichwort: Selbstdiagnose.
Gefährlicher Modetrend
Mitglieder der Ernährungsfachgesellschaft Society of Nutrition and Food Science (SNFS) mit Sitz an der Universität Hohenheim in Stuttgart haben in einem Fachgespräch darauf hingewiesen, dass Nahrungsmittelunverträglichkeiten entgegen des Scheins nicht zunehmen. Zwar glauben immer mehr Menschen, von Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien betroffen zu sein, von Gluten-Sensitivität über Laktose- oder Fruktoseintoleranz bis zu Allergien gegen Milcheiweiß, Fisch oder Nüsse. Aber das ist nicht der Fall: Nach wie vor leiden etwa 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland unter einer nachgewiesenen Allergie gegen bestimmte Nahrungsmittel oder -inhaltsstoffe.
Professor Dr. Jörg Kleine-Tebbe vom Allergie- und Asthmazentrum Westend in Berlin empfahl, genauer hinzuschauen: „Nahrungsmittelallergien bezeichnen immunologisch vermittelte Unverträglichkeitsreaktionen gegen Nahrungsmittel“. Dabei müsse man zwischen primären und sekundären Nahrungsmittelallergien unterscheiden. „Primäre Nahrungsmittelallergien treten eher im Säuglings- und Kleinkindalter gegenüber stabilen Proteinen in Grundnahrungsmitteln auf. Probleme bereiten dann Kuhmilch, Hühnerei, Weizen, Erdnüsse, Baumnüsse oder Fisch“, so der Experte. Während sich Reaktionen auf die ersten drei Lebensmittel häufig nach wenigen Jahren zurückbilden, werden die letzten drei oft lebenslang nicht vertragen.
Anders verhalte es sich mit sekundären Nahrungsmittelallergien, erklärte Professor Kleine-Tebbe: „Sie entstehen durch ähnliche Proteine in Pollen, etwa Birkenpollen, und pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Kern- und Steinobst, Nüsse, Karotten oder Soja“. Die Reaktionen seien bei sekundären Nahrungsmittelallergien häufig milder Natur, können aber im Einzelfall auch schwer ausfallen. Kleine-Tebbe empfahl, die hoch entwickelten Diagnosemethoden zu nutzen. „Leider werden hierzulande oft untaugliche Methoden bei Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten angeboten, die zur Verwirrung und unberechtigten Diäten bei den Betroffenen beitragen“, warnt er.
„Frei von“-Lebensmittel nur für wenige Menschen empfehlenswert
Viele Menschen, die an sich selbst Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu entdecken glauben, greifen deshalb zu „Frei von“-Lebensmitteln, etwa „ohne Gluten“ oder „ohne Laktose“. Muffins ohne Gluten, Joghurt ohne Laktose gelten bei vielen Verbrauchern heute sogar als besonders gesund. Aber das ist nicht der Fall. Für Menschen ohne nachgewiesene Allergie oder Intoleranz haben „Frei von“-Produkte in den meisten Fällen nicht nur keinen Mehrwert, sie können im Gegenteil sogar schaden. Denn zum Beispiel reduziert man gleichzeitig mit dem Gluten – dem Klebereiweiß im Getreidekorn – oft auch den Vollkornanteil im Essen. Aber Lebensmittel wie Vollkorn- und Milchprodukte haben einen hohen gesundheitlichen Nutzen, betonen die Wissenschaftler beim Fachgespräch.
Professor Dr. Jan Frank, Ernährungswissenschaftler an der Universität Hohenheim und Vorsitzender der SNFS, kennt aber auch das Problem, dass manche Lebensmittel auch Menschen ohne echte Stoffwechselstörung Beschwerden verursachen. Für diese Menschen hat er einen Rat: „Wer das Gefühl hat, bestimmte Nahrungsmittel nicht gut zu vertragen, sollte sie reduzieren, aber im Sinne einer ausgewogenen, vielfältigen Ernährung nicht komplett weglassen“. Mit diesem Kompromiss könne man gefahrlos ausprobieren, was einem gut bekommt.
Quelle: Universität Hohenheim