Zum 200. Geburtstag des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen
1846 war ein ganz besonderes Jahr im Westerwald. Bereits im August gab es den ersten Schnee. Die Ernte fiel katastrophal aus. Zudem grassierte die Kraut- und Knollenfäule in den Kartoffeln. Der nachfolgende Winter ging als Hungerwinter in die Geschichte der Region ein.
Das große Elend der Landbevölkerung animierte den damals 28-jährigen Bürgermeister des Örtchens Weyerbusch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, aktiv zu werden. Er gründete den „Weyerbuscher Brodverein“. Zunächst um Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen, später aber auch um Saatgut und Kartoffeln gemeinschaftlich zu beziehen. Bereits in den Jahren zuvor hatte Raiffeisen sich für den Bau einer Schule und einer Straße nach Neuwied eingesetzt.
Handfeste Hilfe statt hochtrabender Theorien
Die Ursache für die Armut der Landbevölkerung waren nicht nur das unberechenbare Wetter und Schaderregerplagen, sondern auch die fehlende Bildung und Unerfahrenheit in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Die Bauern kauften sich von den Frondiensten gegenüber ihren Gutsherren frei, verschuldeten sich dabei hoch und gerieten in die Hände von Wucherern.
Während der im gleichen Jahr geborene Karl Marx in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsweise übte und Theorien zu ihrer Überwindung entwickelte, war Raiffeisen ein Mann der Tat. Fest geerdet in einem christlichen Weltbild setzte er auf Hilfe zur Selbsthilfe und Solidarität, um Notsituationen zu überwinden.
Ab 1862 initiierte Raiffeisen die ersten Genossenschaften im eigentlichen Sinne, so zum Beispiel den „Heddesdorfer Darlehnskassenverein“. Der Verein basierte auf den Grundsätzen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Die Mikrokreditnehmer verpflichteten sich zur Mitgliedschaft.
Der Westerwälder stand mit seiner Überzeugung nicht allein. Etwa zeitgleich trieb Hermann Schulze-Delitzsch die Genossenschaftsidee im sächsischen Delitzsch voran. Er richtete sich besonders an kleine Handwerker und Händler. Zuvor waren bereits genossenschaftsähnliche Arbeitervereinigungen in den Baumwollspinnereien Schottlands und Nordenglands entstanden.
Geld- und Warengeschäft
Um die Mitglieder wirtschaftlich zu stärken, setzte Raiffeisen neben fairen Krediten auch auf das Warengeschäft. Mit Erfolg, denn wenn viele „kleine“ Marktteilnehmer gemeinsam Waren einkaufen und ihre Produkte verkaufen, sind sie viel stärker als der Einzelne.
Nach seiner frühen Pensionierung im Jahr 1865 versuchte sich der Genossenschaftspionier zunächst als Zigarrenhersteller. Danach betrieb er eine Weinhandlung und wurde Buchautor, um seine Ideen und Erfahrungen einem möglichst großen Interessentenkreis zu vermitteln. Sein Werk kam 1866 heraus und brachte den Stein ins Rollen: 1870 gab es in der ehemaligen Rheinprovinz (westlicher Teil Nordrhein-Westfalens und nördlicher Teil von Rheinland-Pfalz) bereits 75 Darlehenskassenvereine.
Raiffeisen referierte regelmäßig vor Interessenten und beriet die jungen Vereine. Immer wieder betonte er, wie wichtig es sei, die Organisationen ehrenamtlich zu führen und ihre Uneigennützigkeit fest zu verankern. Damit sich die Vereine untereinander helfen können, war er 1872 an der Gründung einer Geldausgleichstelle und 1874 an der „Deutschen landwirtschaftlichen Centralbank“ beteiligt. Bis 1886 engagierte er sich intensiv für sein Lebenswerk, dann zwang ihn seine angegriffene Gesundheit zum Kürzertreten. 1888 verstarb Friedrich Wilhelm Raiffeisen im Alter von 69 Jahren an einer Lungenentzündung. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Friedhof in Heddesdorf.
Eine Idee zieht Kreise
Heute existieren in Deutschland rund 8000 Genossenschaftsunternehmen. Die Genossenschaften zählen über 22 Millionen Mitglieder. In den Volks- und Raiffeisenbanken arbeiten rund 187 000 Menschen. Die ländlichen Genossenschaften beschäftigen über 107 000 Mitarbeiter. Die UNESCO hat die Genossenschaftsidee 2016 in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.