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Am historischen Marktplatz, im ehemaligen Wohnhaus der Kaufmannsfamilie Blume, kann in einer interaktiven Ausstellung auf drei Etagen die Bedeutung von Harnstoff untersucht werden. Foto: Catrin Hahn
06.12.2018
Schule & Wissen

Hier stimmt die Chemie

An historischem Ort informiert eine interaktive Ausstellung über die Bedeutung von Harnstoff

Das Science Center „futurea“ der SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Lutherstadt Wittenberg ist eine Wissenschaftsausstellung über ein lebenswichtiges Molekül – und schafft zugleich Verständnis für Wissenschaft.

Wir schreiben das Jahr 1620. Seit zwei Jahren verwüstet ein Krieg Mitteleuropa, von dem noch niemand ahnt, dass er weitere 28 Jahre andauern wird. Die kleine Universitätsstadt Wittenberg blieb glücklicherweise bisher verschont. Doch viele Menschen aus der Umgebung strömen auf der Suche nach Nahrung und Unterschlupf in die Stadt. Im Hause des Kaufmanns Blume, direkt am Marktplatz, werden am Esstisch Probleme erörtert: Neben der Pest, die immer wieder die Stadt heimsucht, hat schon wieder eine Missernte für höhere Lebensmittelpreise gesorgt. Außerdem dezimieren Lagerschädlinge die magere Ernte. Kaufmann Blume ist besorgt.

Woher wir diese Szene kennen? Das IVA-Magazin war dabei! Im Haus des Kaufmanns, am Markt 25 in Lutherstadt Wittenberg, am Esstisch, und haben dem Gespräch mit seiner Frau zugehört.

Geschichte am Esstisch

Und das können Sie auch. Nämlich im Science Center „futurea“ der SKW Stickstoffwerke Piesteritz. Das vor den Toren von Wittenberg gelegene Unternehmen hat das 1541 gebaute Haus von Kaufmann Blume gekauft und darin eine Wissenschaftsausstellung eingerichtet. Hinter der Wortschöpfung aus Future und Urea steckt ein tolles Konzept für eine lebendige, aufregende Ausstellung. Das Haus wirkt direkt ab der Eingangstür wie ein Magnet, der einen durch Räume und Stockwerke zieht.

„Das geht den meisten Besuchern so“, bestätigt Janina Dorn. Die Soziologin leitet das Science Center und erzählt, wie oft Besucher am Ende erschrocken auf die Uhr schauen: „Die durchschnittliche Besuchszeit liegt schon bei etwa drei Stunden“.

Drei Stunden? In einer Ausstellung über Harnstoff? Schulklassen, die gebannt auf dem Boden sitzen und sprechenden Bildern zuhören; aus Plastikteilchen Moleküle zusammenbasteln oder mit einem Modellmähdrescher ein virtuelles Getreidefeld abernten?

So ist es, beteuert Frau Dorn. Viele Klassen kommen wieder, im Gästebuch finden sich begeisterte Einträge, Kinder sind auch nach Stunden nur schwer zum Gehen zu bewegen.

Ein Haus voller Chemie

Wissenschaft und Geschichte sind hier fesselnd und anschaulich dargestellt, werden mit unserem heutigen Leben verbunden und eindrucksvoll vermittelt. Direkt am Eingang lernt man, wie erwähnt, die Kaufmannsfamilie Blume und ihre Probleme kennen. Wenig später, im Nachbau eines historischen Labors, treffen wir die Wissenschaftler Justus von Liebig, William Crookes und Friedrich Wöhler. Sie alle haben dafür gesorgt, dass die Bedeutung von Nährstoffen und vor allem Stickstoff für Pflanzenentwicklung und Ertrag ans Licht kommt. Im daneben eingerichteten „Wohnzimmer“ der Familie Blume treffen die Wissenschaftler auf Hausfrau Blume – alle in sprechenden Gemälden wie bei Harry Potter nebeneinander hängend – und erklären ihre Erkenntnisse.

Eine Etage darüber, in einem eher modernen Labor, können die Besucher dem Harnstoff auf den Grund gehen. Das ist überhaupt das Grundprinzip der Ausstellung: alles anfassen und ausprobieren. Mechanische und digitale Werkzeuge verbinden sich auf unterhaltsamste Weise, etwa wenn man aus Kugeln, die Elemente darstellen, die Summenformel CH4N2O von Urea „nachbaut“. Später erfährt der Besucher mehr über den Nutzen mineralischer Dünger und darüber, wie viele Menschen damit heute mit abwechslungsreichem und gesundem Essen versorgt werden können.

Von AdBlue bis Zahnpasta

Doch die Verwendung als Düngestoff ist keinesfalls die einzige Nutzungsmöglichkeit. „Harnstoff ist ein Alleskönner“, so beschreibt es Janina Dorn. In einem futuristisch anmutenden Raum lernt man etwa an einem Motorenmodell die Wirkungsweise des Dieselzusatzstoffs AdBlue kennen. Oder die Wohltaten, die Harnstoff in der Kosmetik bereithält. Im Beschichtungsstoff Melamin macht das Element Oberflächen hart und unempfindlich.

Doch klar wird hier auch: All diese Errungenschaften sind keineswegs mit Harnstoff zu genießen, der reichlich in natürlichen Lagerstätten auf den Abbau wartet. Nitrate, die unter dem Oberbegriff Salpeter bekannt sind, wurden jahrhundertelang vor allem in Chile und Indien abgebaut – allerdings eher für die Verwendung als Schießpulver. Die natürlichen Lagerstätten sind nahezu erschöpft. Glücklicherweise haben der Chemiker Fritz Haber und der Ingenieur Carl Bosch zwischen 1905 und 1913 die Ammoniaksynthese aus Luftstickstoff erfunden. Das Haber-Bosch-Verfahren sorgt dafür, dass für alle derzeitigen Nutzungen – und auch für die, die erst noch entdeckt werden – genug Rohstoff zur Verfügung steht. Auch das Unternehmen SKW Piesteritz verdankt dieser Synthese seine Existenz; es ist heute Deutschlands größter Harnstoff- und Ammoniakproduzent. Im Produktportfolio finden sich Spezialitäten für die Agro- und Industriechemie. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung sucht ständig nach weiteren Anwendungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten.

Eine maßstabsgetreue Abbildung des Werksgeländes in der Ausstellung zeigt die einzelnen Syntheseschritte, die Zuführung der benötigten hohen Temperaturen und Drücke, Lagerungs- und Produktionseinrichtungen. Zu erkennen ist aber auch, dass das Unternehmen in den letzten Jahren viel für seine Mitarbeiter getan hat: Es gibt zwei Betriebskindergärten, einen Hort, ein Ärztehaus.

Hier schließt sich auch der Kreis zur Ausstellung am Markt in Wittenberg. Natürlich will das Industrieunternehmen mit dieser Ausstellung etwas erreichen.

Chemie ist sexy

Janina Dorn nennt mehrere Gründe: „Zum einen geht es tatsächlich um die Nachwuchsgewinnung. In unserer Region, einst so von der Chemie geprägt, herrscht heute Fachkräftemangel“. Also werden Schulklassen eingeladen und Konzepte für verschiedene Altersgruppen angeboten, vom Kurzbesuch bis zum Ganztagsaufenthalt. Vom Kindergarten bis zum Chemie-Leistungskurs.

Daneben geht es natürlich auch darum, in der Bevölkerung Interesse für Chemie und Landwirtschaft zu wecken. Misstrauen, nicht selten unterstützt von handfester Unkenntnis, sorgt für Widerstände gegen beide Bereiche. Hier mit spielerischer Information Aufklärung zu leisten, dieses Ziel kann man gar nicht genug loben.

Und zuletzt – auch das ist bei einem so aufwändigen Projekt absolut legitim – will das Unternehmen auch etwas für sein Image tun. „SKW Piesteritz will zeigen, wie es sich mit der Kultur und der Geschichte dieses Ortes verbunden fühlt“, beschreibt es die Leiterin. Schließlich ist die Geschichte des Werks ein Teil der Geschichte des Ortes.

Vielleicht wird manch einem Besucher bewusst, welchen Einfluss die Chemie – und nicht zuletzt ein einziges Element mit der Summenformel CH4N2O – auf sein Leben hat.

futurea Science Center

Markt 25, 06886 Lutherstadt Wittenberg

www.futurea.de

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