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Dr. Helmuth Lieber, Mitglied der Arbeitsgruppe Lebensmittelsicherheit des Industrieverbands Agrar (IVA) Quelle: Bayer CropScience
05.12.2006
Umwelt & Verbraucher

Mehrfachrückstände – was bedeuten sie für die Lebensmittelsicherheit?

Das Auftreten von mehreren Pflanzenschutzmittel-Rückständen kann viele unterschiedliche Gründe haben.

Bei der Qualitätskontrolle von Obst und Gemüse werden gelegentlich Rückstände von mehreren Pflanzenschutzmitteln gefunden. Man spricht von Mehrfachrückständen. Profil sprach mit Dr. Helmuth Lieber, Experte für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit von Bayer CropScience darüber, ob von ihnen ein Risiko für den Verbraucher ausgeht.

Was versteht man unter Mehrfachrückständen und wie können sie entstehen?

Wenn bei der Lebensmittelkontrolle Rückstände von mehreren Pflanzenschutzmitteln gefunden werden, spricht man allgemein von Mehrfachrückständen. Dazu kann es immer dann kommen, wenn die Pflanzen vor mehreren Krankheiten und/oder Schädlingen geschützt werden müssen und dazu verschiedene Pflanzenschutzwirkstoffe während einer Anbausaison angewandt werden. Mehrfachrückstände können aber auch ihre Ursache in der Mischung von Erntegütern haben. Bei der Sortierung vieler Obstarten nach Handelsklassen und Qualitätskriterien werden oft Produkte verschiedener Erzeuger gemischt. So kann es sein, dass in einer Kiste Äpfel mehrerer Erzeuger zusammengefasst wurden, von denen jeder unterschiedliche Pflanzenschutzmittel verwendet hatte.

In wie viel Prozent der untersuchten Lebensmittelproben tauchen Mehrfachrückstände auf?

Die Ergebnisse der Lebensmittelüberwachung werden in den jährlichen Rückstands-Monitoringberichten der Bundesregierung für Deutschland und den EU- Monitoringberichten für die gesamte Überwachung der EU mitgeteilt. Seit Jahren bewegt sich die Zahl der Proben mit Mehrfachrückständen bei ca. 1/3 aller untersuchten Proben. Allerdings ist dieser Wert in keiner Weise repräsentativ für die Gesamtheit unserer Nahrungsmittel. Die häufiger kontrollierten Erntegüter wie Tafeltrauben, Paprika und Erdbeeren sind mit ca. 1/3 an der Gesamtprobenzahl extrem überrepräsentiert. Dagegen werden Getreide oder Kartoffeln wesentlich seltener beprobt.

Warum findet man heute öfter mehrere Wirkstoffe in Obst und Gemüse als vor 10 oder 20 Jahren? Heißt das, dass die Landwirte heute mehr spritzen als früher?

Genau das Gegenteil ist der Fall. Heute werden deutlich geringere Mengen an Pflanzenschutzmitteln eingesetzt. Der Pflanzenschutz hat sich jedoch grundlegend verändert: Wurden früher Wirkstoffe angewendet, mit denen man gleichzeitig mehrere Schaderreger bekämpfte, geht man heute mit modernen Pflanzenschutzmitteln gezielt gegen einzelne Insekten oder Schadorganismen vor. Diese Mittel sind dann meist nützlingschonend, sehr selektiv und somit nur wirksam gegen einzelne Schadorganismen. Beim gleichzeitigen Auftreten von verschiedenen Schädlingen oder Krankheiten kann es erforderlich sein, zwei oder drei Präparate in Tankmischung anzuwenden.

Parallel dazu ist die Analytik heute viel empfindlicher als früher. Mit den modernen Multimethoden können einige hundert Wirkstoffe gleichzeitig bis zu einer Menge von nur 0,001 mg/kg Erntegut sicher nachgewiesen werden. Das bedeutet auch, dass heute minimalste Wirkstoffspuren ermittelt werden können, die aus einer Monate vor der Ernte zurückliegenden Behandlung stammen. Am Beispiel von Paprika heißt das, dass von der Blüte der Paprikapflanze bis zur Ernte der Schoten jede Behandlung nachträglich ermittelt werden kann.

Was bedeutet dieser lange Rückblick in die Anbausaison für den Anwender und den Verbraucher?

Die moderne Analytik ermöglicht es den Kontrollbehörden, die sachgerechte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln besser zu überprüfen. So kann z. B. eine Fehlanwendung durch den Einsatz von nicht genehmigten Wirkstoffen besser festgestellt werden. Der Anwender muss dann mit einem Bußgeldverfahren rechnen. Diese sehr feine Analytik ist also ein wichtiger Beitrag zur Anwenderkontrolle und sollte als solcher auch betrachtet werden.

Wie müssen wir uns den praktischen Nutzen selektiver Pflanzenschutzmittel vorstellen?

Die Wirkstoffe sind heute so spezifisch, dass sogar innerhalb einer Insektengruppe nur ganz bestimmte Arten bekämpft werden. Nehmen wir als Beispiel Akarizide - Milbenmittel. Hier gibt es hochspezifische Mittel, die nur den zu behandelnden Schädling (z.B. Tetranychus urticae) kontrollieren, aber die natürlichen Gegenspieler, die Raubmilben (z. B. Thyphlodromus pyri) schonen. Das ist ökologisch gesehen ein besonderer Vorteil. Die Raubmilben verzehren die nach der Behandlung der Kultur überlebenden Spinnmilben und verhindern so eine schnelle Neubesiedlung des Bestandes mit diesem Schädling. Selektive Mittel ermöglichen sozusagen eine Partnerschaft zwischen modernem Pflanzenschutz und biologischer Schädlingsregulierung. Die Konsequenz ist, dass durch den Einsatz hochselektiver Mittel mitunter nur eine oder zwei Behandlungen in einer Saison notwendig werden, wo früher in regelmäßigen Abständen mehrmals Akarizide eingesetzt wurden.

Ein weiterer Vorteil ist der hochspezifische Wirkungsmechanismus moderner Pflanzenschutzmittel. So ist es heute möglich, mit nur wenigen Gramm Wirkstoff Schädlinge und Krankheiten zu kontrollieren. Gleichzeitig verbessern sie die Sicherheit für den Anwender und die Umwelt.

Warum findet man Rückstände von verschiedenen Wirkstoffen, die gegen die gleichen Schädlinge oder Krankheiten eingesetzt werden?

Natürlich bekommt man nicht jedes Problem mit einer einzigen Behandlung in den Griff. Während man früher dieselben Mittel wiederholt einsetzte, weicht man heute spätestens nach der zweiten Anwendung auf alternative Wirkstoffe mit unterschiedlichem Wirkmechanismus aus, um eine Resistenzbildung beim Schädling zu vermeiden.

Die Resistenzbildung bei Schadorganismen ist übrigens mit der Entwicklung resistenter Keime in der Humanmedizin vergleichbar: Wenn eine Infektion mehrmals hintereinander behandelt werden muss, wird der Arzt nie das gleiche Antibiotikum wiederholt verschreiben. Durch einen Wechsel von Antibiotika mit verschiedenen Wirkmechanismen kann die Entstehung resistenter Keime verhindert werden.

Wird bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln berücksichtigt, dass verschiedene Wirkstoffe zur Anwendung kommen?

Pflanzenschutzmittel werden nur zugelassen, wenn sichergestellt ist, dass für alle Anwendungsbereiche und Dosierungen keine unvertretbaren Risiken für Mensch, Tier und Umwelt bestehen. Bei der Beurteilung dieser Risiken wird selbstverständlich auch berücksichtigt, dass andere bereits registrierte Wirkstoffe zum Einsatz kommen können. Für Wirkstoffe, die sich gegenseitig beeinflussen können, werden Summenhöchstmengen von der Zulassungsbehörde festgelegt.

Müssen Rückstände nicht generell summiert werden?

Für Wirkstoffe mit gleichem Wirkungsmechanismus gelten Summenwerte. Das heißt, gleich wirkende Rückstände werden addiert. Nach allen bisherigen Studien wurden aber keine synergistischen oder additiven Wirkungen von Wirkstoffen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen festgestellt, die es rechtfertigen würden, aufwändige Studien für alle möglichen Wirkstoffkombinationen durchzuführen. Auch nach Meinung der Behörden würde eine intensivere Prüfung eine Unmenge an Versuchstieren opfern, ohne zu einer besseren Abschätzung des Risikos zu gelangen und ohne dem Verbraucherschutz besser zu dienen.

Dann bedeutet also Ihrer Meinung nach das Auffinden von Mehrfachrückständen kein gesundheitliches Risiko?

Ein klares nein bei den üblicherweise gefundenen Mengen. Das ist im übrigen die Meinung aller verantwortlichen Experten in den Zulassungsbehörden und in internationalen Gesundheitsorganisationen. Zum einen sind die gemessenen Rückstände im allgemeinen sehr niedrig. Zum anderen sind gerade beim Auftreten von mehreren Rückständen immer einige Werte im extrem niedrigen Bereich. Die oben erwähnten Monitoringberichte zeigen deutlich, dass Rückstände in Konzentrationen gefunden werden, die weit unterhalb der für den Menschen wirksamen Menge liegen.

Bei den hohen Sicherheitsstandards in Deutschland und Europa sind überzogene Ängste fehl am Platz. Aufgrund meiner langjährigen internationalen Erfahrung kann ich bestätigen, dass die für den Schutz des Verbrauchers zuständigen deutschen Behörden für viele Länder beispielhaft sind. Der Verbraucherschutz ist bei uns vorbildlich und weltweit anerkannt.